Osten - eine Utopie
von Kornelius Friz und Christoph Möller
Horst Puttfarken sitzt im Obergeschoss der Kulturmühle Osten auf morschen Dielen. Detailliert erklärt er die technischen Raffinessen, dank derer die 1909 als Kornspeicher errichtete Mühle einst den großen Bedarf des gesamten Umkreises bedienen konnte. Eine Druckluftförderanlage beförderte das zu mahlende Korn „wie ein überirdischer Vakuumsauger“ direkt von den Schuten auf der fünfhundert Meter entfernten Oste bis hin zum Mahlwerk. Auch abseits der technischen Details haben die Kulturmüller viel zu erzählen. Dass sie ihren Ort gern haben. Dass auch Neu-Ostener willkommen sind und sich engagieren können. Und dass der Tourismus mehr Fluch als Segen sei. Manfred Toborg, der erste Vorsitzende der Kulturmüller erinnert sich noch, wie er als Kind mit einem Eimer zur Mühle geschickt wurde, um Futter für die Hühner zu holen. Bis zu seinem Tod, wenige Wochen nach unserem Besuch in Osten praktizierte er neben seinem Engagement als für die Kulturmühle als Allgemeinarzt vor Ort und war einer von etwa zehn Bässen im Gemischten Chor Osten. Mit Horst Puttfarken und rund zwanzig anderen Sängerinnen und Sängern saß er nach jeder Probe auf dem Dachboden der Mühle und ließ bei Pils und Weißweinschorle den Abend ausklingen. Mehr als die Hälfte der Chormitglieder reist extra aus umliegenden Orten an: Stade, Cuxhaven, Bremerhaven.
„Utopie“ aus altgriechisch οὐ- ou- „Nicht-“ und τόπος tópos „Ort“
Warum ist das so? Warum erfährt nicht nur der Ostener Chor, sondern der gesamte Ort so viel Zulauf? Aus ganz Europa kommen pro Jahr tausende Radtouristen nach Osten. Wenn erst der Elbetunnel von Cuxhaven nach Hamburg gebaut wird, werde Osten sein blaues Wunder erleben, meint Puttfarken. Dann wird man nur noch fünfundvierzig Minuten in die Metropole brauchen und die hippen Großstädter werden versuchen, eines der begehrten Häuschen am Oste-Deich zu ergattern, um zur Arbeit nach Hamburg zu pendeln. Der Tunnel würde Osten grundlegend verändern. Ob zum Guten oder zum Schlechten, das weiß Puttfarken noch nicht. Aber noch ist unklar, ob der Tunnel überhaupt kommen soll.
“Wer sich einbringt, wird auch aufgenommen”
Doch schon jetzt gibt es gewisses Misstrauen oder zumindest Zurückhaltung zwischen den Alteingesessenen und den Neu-Ostenenern, zu denen auch Horst Puttfarken, der immerhin schon seit sechs Jahren in Osten lebt, zählt. Rüdiger Toborg, der Bruder des Dorfarztes ist in Osten aufgewachsen. Der gelernte Tischler ist einer der wenigen, die nach dem Studium wieder zurückkamen. Obwohl schon sein Großvater Toborg ein echter Ostener war, beschreibt Rüdiger Toborg sich selbst nicht als Ur-Ostener – denn irgendjemand war immer schon länger da. Sein Möbelhaus, das er in den letzten Jahrzehnten immer wieder ausgebaut hat, musste er Anfang des Jahres schließen, im Moment versucht er, die letzten Schränke und Couches loszuwerden.



Edda Renelt, die Apothekerin, spielt Gitarre in der Ostener Katastrophenband. Mit Kim Fabian hat es noch nie Probleme gegeben, sagt sie und Frau Toborg von der Kulturmühle ergänzt: „Einmal hatte er seine Modelfreundinnen mitgebracht und dann haben sie sich im Garten an- und ausgezogen den ganzen Tag ihre Modelsachen gemacht.“ Renelt ist selbst in Osten aufgewachsen. Nach dem Studium in Hamburg kam sie wieder zurück und kann sich keinen anderen Ort zum Leben vorstellen. Menschen wie sie halten die Dorfgemeinschaft lebendig und überhaupt erst intakt. Zwar ist es nicht mehr möglich, von Hemmoor unabhängig in Osten zu leben, aber die Tatsache, dass es auch vor Ort mehrere Ärzte und eine Apothekerin gibt, zieht sogar noch neue Leute an. Neben den zahlreichen Touristen, die meisten nicht einmal eine Nacht bleiben, gibt es auch immer mehr Menschen, die sich ein Zweithäuschen in der Idylle am Ostedeich kaufen – oder gleich ganz nach Osten ziehen.
Wenn diese sich aber nirgends zeigen, wird der engagierte Kern der Dorfgemeinschaft wütend. Denn überlebenswichtiger als Ärzte und Geschäfte ist dem Ostener das aktive Vereinsleben. Der TV Basbeck-Osten ist in der aktuellen Saison zwar in die Kreisliga abgestiegen, aber er hat keine Schwierigkeiten, eine spielfähige Mannschaft zusammenzubringen. Das jährliche Schützenfest zieht mindestens so viele Menschen aus den Anrainergemeinden an, wie das 125. Jubiläum des gemischten Chors, das einen ganzen Julisonntag lang mit ausuferndem Kulturprogramm gefeiert wurde.
Dieses Highlight ließ Rüdiger Toborg sich natürlich nicht entgehen, obwohl er gerade alle Hände voll zu tun hat. Vor kurzem ist er in eines der begehrten Häuschen auf dem Ostedeich gezogen. Als sein Sohn sich entschied, der Liebe wegen nach Koblenz zu ziehen, hatte sein Geschäft in dieser Form keine Zukunft mehr. Aber anstatt aufzugeben, fängt der Siebenundsechzigjährige nochmal von vorne an. Er will ein Küchenstudio aufbauen. Dass er in seinem Nebenjob als Ostens Bestatter in den nächsten Jahren eher mehr, denn weniger zu tun haben wird, ist ihm egal.